Freitag, 10. September 2010

Kulturschock

Ich könnte jetzt ein paar Dinge erzählen, die wir diese Woche in Estelí erlebt haben. Wie zum Beispiel dass der Spanischunterricht lehrreich, interessant und witzig war und dass wir den deutschen Film „Die fetten Jahre sind vorbei“ mit spanischem Untertitel in Condega gesehen haben. Da waren wir für einen Abend. Das ist aber alles unspektakulär im Vergleich zu unserem Erlebnis und den Eindrücken heute. Wir haben unserem Gastbruder erzählt, dass wir durch ein Viertel armer Bevölkerung gejoggt sind. Woraufhin er entgegnete dieses Viertel sei noch lange nicht das Ärmste. Es gäbe noch eine Hüttensiedlung nahe der Müllhalde außerhalb der Stadt. Nach einem kurzen Gespräch haben wir uns verabredet dort hinzufahren. Julian und ich finden es wichtig beide Seiten Nicaraguas zu kennen, um ein vollständiges Gesamtbild zu haben und zu wissen wovon wir sprechen. So sind wir heute mit dem Bus die Panamericana entlang aus der Stadt gefahren und dann zu Fuß in einen Feldweg abgebogen. Nach einer 40-minütigen Wanderung einige Hügel rauf und wieder herunter, kamen wir recht erschöpft an unserem Ziel an. Die uns erwartende Kulisse weckte uns sofort aus unserer Erschöpfung. Sowas hab ich noch nie gesehen und ich hätte auch niemals mit einem solchen Anblick gerechnet. Nahezu so weit das Auge reichte war Müll in der Landschaft aufgetürmt. Jedoch höchstens zwei bis drei Meter hoch, weshalb sich das ganze so weit ausbreitet. Das schöne bergige Bild völlig zerstört durch Plastik-, Papier- und Restmüll! Vom Gestank ganz zu schweigen. Der war so enorm. Es roch wie eine Restmülltonne im Sommer bei 40°C nur dass dessen Deckel nicht wieder geschlossen wird. Es war ein hässlicher, trauriger und unfassbarer Anblick und Geruch. Dann stachen uns die „Hütten“ in die Augen. Aus Holz und Plastik notdürftig zusammengesteckte Wände und Dächer sollen als Unterkunft und Schutz vor der zeitweise heftigen Witterung dienen. Ich hab mich sofort gefragt wie die Menschen hier Sicherheit finden und vor dem Regen geschützt werden. Nach einem Gespräch mit einem Mann im Rollstuhl, der keine Beine hatte, vollkommen dreckig war und eine große Verletzung am Art hatte, stellte sich heraus, dass die Menschen hier der Natur ausgesetzt sind. Sie werden so gut wie bei jedem Regen ziemlich nass und somit sind sie einerseits aufgrund des Wetters und andererseits wegen der Bakterien im Müll dauerhaft krank. Sein Mitbewohner zündete in deren Hütte eine Feuer an, woran sie sich abends wärmen und zum Beispiel Fleischreste aus dem Müll erwärmen. Auf der ganzen Halde qualmte es an einigen Stellen und es führen einige Wege durch die Müllberge. Hier haben sich durch die Müllwagen bis zu einem Meter tiefe Schlammlöcher gebildet, die die Bewohner der Hütten auf der anderen Seite der Halde durchqueren müssen, um in dem neu herangeschafften Müll nach Nahrung und Metall zu suchen, den sie für ein paar Cent verkaufen können. Angrenzend an die Müllhalde leben sechzig Menschen, die sich auf den Müll stürzen wenn er abgekippt wird. Ich kann mir gut vorstellen, dass es hierbei auch schon mal zu Auseinandersetzungen kommt wer welchen Müll behalten darf. Bei einem weiteren Gespräch mit drei Jugendlichen erfuhren wir, dass die Menschen hier in ihren Hütten auf dem Lehmboden schlafen, auch wenn teilweise Wände fehlen und sie so bei Nacht und Regen nass werden und ungeschützt sind. Ich habe mich die ganze Zeit so unwohl gefühlt, als ich das Schicksal dieser Menschen gesehen habe! Wenn ich jetzt im warmen Bett sitze und wieder darüber nachdenke, wird mir wieder richtig unwohl und flau im Magen bei dem Gedanken und ich fühle mich falsch. Wie kann eine so große Kluft zwischen den Menschen entstehen, dass es den einen mehr als gut geht und die anderen so versuchen zu überleben. Wir haben dann noch Bonbons verteilt und eine Flasche Wasser dagelassen. Auch wenn es nur ein Tropfen auf den heißen Stein war und es keine Grundnahrung war, haben sich die Leute sehr darüber gefreut! Auf dem Rückweg mussten wir uns beeilen, um noch den letzten Bus zurück in die Stadt zu bekommen. An der Bushaltestelle angekommen, war kein Bus weit und breit aber großer Hunger im Magen und ein Laden nicht all zu weit entfernt. So gingen Julian und ich dort hin, haben uns gerade entschieden dass wir ein Stück trockenen Kuchen nehmen, da fuhr der Bus an uns vorbei. Wir rannten los und riefen der Verkäuferin noch zu, dass sich das mit dem Kuchen erledigt hätte. Der Bus hielt nicht an, aber ich lief weiter. Ich wollte nicht noch drei Kilometer zu Fuß zurücklegen. Das sollten wir auch nicht müssen. Der Bus hielt 400 Meter später an und wir konnten noch mit nach Estelí zurückfahren=). So ging ein großes Abenteuer zu Ende … Die Gedanken an die Bilder der Müllhalde werden jedoch nicht so schnell aus meinem Kopf verschwinden!

1 Kommentar:

uti hat gesagt…

Hallo lieber, Lennart!
Dein sehr eindrucksvoller Bericht macht schon sehr nachdenklich... und es ist sicher schlimm, sich mit dieser Seite der Realität auseinanderzusetzen...
Mich hat erstaunt, dass die Menschen alle offen und bereit waren, mit euch zu sprechen...das ist toll!!
Vielleicht kannst du es auch noch einmal aus dem Blickwinkel sehen, dich nicht falsch fühlen zu müssen, sondern, dass du und jeder andere für sich seine Gewohnheiten überdenken kann und guckt, was wirklich wichtig ist zum Leben... Welche Werte und Haltungen und Konsumeinstellungen...
So kann jeder eine kleinen Teil beitragen, um ein Stück Mitmenschlichkeit, Würde und Frieden in die Welt zu tragen...
und dass scheint ihr beide ja wirklich ganz hervorragend gemacht zu haben...
das rührt mich schon sehr an...
Jeder kleine Schritt bringt ganz viel Licht in die Welt,
Ich wünsche dir, dass dir bewusst ist, dass all das was du tust wertvoll ist und dass du dir nicht zu viel vornimmst...
Viele kleine Schritte von vielen kleinen Menschen können das Gesicht der Welt verändern...
Alles liebe, Mutti